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Jürgen Damm, Oberst a. D.

Zum 145sten Todestag von Louis Spohr

Gedenkfeier am 22. Oktober 2004
Ehrengrab auf dem Kasseler Hauptfriedhof

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren!

Gräber sind Orte der Trauer, je älter Gräber aber sind, werden sie zu Orten der Erinnerung. Wir alle, die wir uns hier versammelt haben, wollen heute das Ehrengrab von Louis Spohr als Ort des Erinnerns erleben. Erinnern kommt stets aus dem Innern eines einzelnen Individuums und ist geprägt von Stimmungen und ganz persönlichen Erlebnissen. Erinnern ruft Bilder, Gefühle, ja, und auch Worte hervor. Erinnern kann sich verändern.

Ich denke, hier an diesem Ort haben wir alle eine subjektiv – persönliche Erinnerung, die sich nährt, aus Erlebnissen die wir mit Musik hatten. Wir haben aber auch historische Erinnerungen, wenn wir uns mit der Zeit, dem Leben und den Lebensumständen des Mannes befassen, dessen 145sten Todestag wir heute in unsere Erinnerung bringen.

Subjektiv – persönliche Erinnerung und historische Erinnerung sind oftmals miteinander verknüpft. Stimmungen und das persönliche Erleben verstellen oft die Wahrnehmung der Fakten und das Urteil. Erinnerung heißt auch, etwas aufarbeiten. Nur wenn diese Aufarbeitung in tiefere Schichten des Unterbewußtseins eindringt, kritisch analysiert wird und die Verbindung von der Vergangenheit zur Jetztzeit herstellt, kann die Voraussetzung für wertvolles Erinnern geschaffen werden.

Meine Damen und Herren, am 22. Oktober 1859 verstarb hier in Kassel der Fürst unter den Geigern. Ein Mann der nicht nur ein großer Geigenspieler, sondern auch ein begnadeter Komponist, Musikpädagoge und Kapellmeister war. Der Ehrenbürger der Stadt Kassel von 1847:

Louis Spohr.

Wir stehen hier am Ehrengrab dieses außergewöhnlichen Mannes. Auf seinem Grabstein steht:

„1784 den 5. April erblickte durch die Gnade Gottes, Louis Spohr das Licht der Welt. Er wurde zum ewigen Leben abberufen 22. Oktober 1759.“

Ja, trotz allen Höhen und Tiefen, Louis Spohr war ein Gottbegnadeter Mensch, er war ein großer Künstler, ein Mann mit sozialem Engagement.

Louis Spohr war ein Mann, der auf der Höhe seines Ruhmes einen Prozeß gegen seinen Kasseler kurfürstlichen Herrn – durch den Meineid eines Staatsanwaltes – verlor. Der Prozeß ist bekannt geworden, als Prozeß Spohr gegen Landesherrschaft. Allein der Anlaß dieses Prozesses – ein auf Gewohnheitsrecht beruhender Urlaub – den Spohr ohne Genehmigung des Landesherrn antrat, zeigt die Unabhängigkeit dieses außergewöhnlichen Kasseler Bürgers.

Spohr, der sich in politischen Fragen am Beispiel des alten Griechenland orientierte, hat sich in der Zeit nach 1848, obwohl kurfürstlicher Beamter, auf die Seite der oppositionellen Liberalen und Demokraten gestellt.

Die Schikanen seines absolutistischen Landesherren und die Zwangspensionierung haben ihn getroffen, dennoch hat er in den letzten zwei Jahren seines Lebens, zeitweilig noch auf Reisen, alle Tagesfragen der Politik und Kunst interessiert verfolgend, von seinen Erinnerungen zehrend, ohne Bitternis und Ungeduld auf sein Ende gewartet. Das Ende, wie es auf seinem Grabstein steht, ihn am 22. Oktober 1859 zum ewigen Leben abberufen hat.

Gnade Gottes bei der Geburt, ewiges Leben beim Tode!

Ich frage:
Louis Spohr ein Christ?

Ich frage:
Louis Spohr ein gläubiger Mensch?

Ich frage:
Louis Spohr ein Mensch, der gespürt hat, daß Gottes Gnade ihn in seinem Leben begleitete?

Ich frage:
Louis Spohr, ein Mensch, der in der Glaubensgewißheit des ewigen Lebens lebte?

Ja, Louis Spohr hat sich mit Fragen des Glaubens sehr intensiv auseinander gesetzt. Und wie sollte er es anders tun, als mit Musik.

Noch im ersten Jahr seiner Tätigkeit in Kassel im Jahre 1822 unterzeichnete er das Gründungsprotokoll des Cäcilien–Vereins, eines Oratorien–Chores mit dem er, gegen mannigfaltige Widerstände in den Jahren 1832, 1833, 1836, 1848 und 1851 Bachs Matthäuspassion aufführte.

Spohrs Glaubenbekenntnis wird aber auch in der Tatsache deutlich, daß er vier Oratorien, drei davon in seiner Kasseler Zeit, schuf. Dies waren die Oratorien:

Drei Psalmen,
Des Heilands letzte Stunden,
Fall Babylons - und das bekannteste,
Die letzten Dinge.

Dieses Oratorium beruhte auf Texten aus der Offenbarung des Johannes. Dieses letzte Buch des Neuen Testamentes, häufig auch die geheime Offenbarung genannt ist, so liest man, das dunkelste und schwierigste Buch des Neuen Testamentes, eine der rätselhaftesten und umstrittensten Schriften der Bibel. Mehr noch, Kritiker des Christentums betrachten dieses Buch als das wohl schrecklichste Erbe des Neuen Testamentes und sprechen von seiner katastrophalen Wirkungsgeschichte. – Die entscheidende Aussage dieses Buches der Bibel ist aber ganz einfach, sie ist unumstößlich und zutiefst trostreich und ermutigend: Gott hat die Macht, er sitzt auf dem Thron. Das Bild und die Aussage beherrschen die ganze Schrift und sind der Schlüssel gegen alle irdischen Machthaber und teuflischen Gegenspieler. Das Böse hat keinen Bestand. Tod, Ungerechtigkeit und Hoffnungslosigkeit haben nicht das letzte Wort, Gottes Thron steht im Himmel, oder ist gar der Himmel selbst.

Meine Damen und Herren, ich habe nicht gefunden, warum Spohr dieses Buch der Bibel zu seinem außergewöhnlichen Werk Die letzten Dinge wählte, das er zum Totensonntag, zum Ewigkeitssonntag komponiert hat. Wollte er damit sagen, daß irdische Herren ihre Macht vor dem Thron Gottes verlieren?

In dem Oratorium sind Worte aus Kapitel 7 , Verse 9 – 17 verwandt, die lauten:

„Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen“. Kann es ein schöneres, verständlicheres, tröstlicheres Bild geben für das, was Gott für seine Menschen sein will?

In mitten von vielen schwer verständlichen und auch bedrohlichen Bildern steht in der Offenbarung, das Bild, für das ich keine theologischen und religionsgeschichtlichen Kenntnisse brauche, um es zu begreifen. Das Bild von Sieg und Anbetung und jubelnder Festfreude birgt ein Gottesbild voller väterlicher Zartheit und Behutsamkeit. In der Thronvision wird der gute Hirte des 23. Psalm zum Lamm. Im Blut des Lammes werden Kleider weiß: Paradoxe Bilder? Ja, es übersteigt alle menschlichen Möglichkeiten auszudrücken, wer Gott für uns ist in seiner vergebenden Liebe in Jesus Christus.

Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen, von den Augen der unzählbar großen Schar von Menschen aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen, die gemeinsam das Lied der Freude über Gott anstimmen. Wann und wo immer Menschen leiden, leuchtet das Bild aus der Offenbarung des Johannes auf als Gottes zu allen Zeiten gültige Wahrheit, hinter den sogenannten Realitäten dieser Welt.

Ja, den Realitäten dieser Welt hat Louis Spohr, dem die Worte der Offenbarung im Kapitel sieben sich sicher tief eingeprägt haben, immer wieder – trotz aller Erfolge – ins Auge schauen müssen.

Der Verlust der geliebten Frau, Dorette, „des schönsten Weibes Cassels“, die nicht nur Ehefrau und Mutter war, sondern ebenbürtige Künstlerin als begnadete Harfenspielerin.

Das Kasseler Publikum, in einer eleganten Residenz lebend, bestand im Grunde aus Ackerbürgern und aus, mit dem Untertanengeist behafteten Menschen. Die Bedürfnisse des Hofes bestimmten das wirtschaftliche, wie das geistige Leben. Den zu Spohrs Zeiten regierenden Kurfürsten war ein tiefergehendes geistiges oder künstlerisches Interesse fremd; nach beider Ansicht genügte ein repräsentatives Theater. Diese Auffassung begrenzte Spohrs künstlerisches Wirken, das sich nach seiner Ansicht in öffentlichen Kammermusiken, Konzerten oder musikalisch umrahmten Feiern darstellen sollte. Der Konflikt zwischen der Würde des freien Künstlertums und dem Hofdienst, war für Spohr immer belastend. Er war aber Realität, die ihn in seiner Entfaltung beeinträchtigte.

Die Musik seines Oratoriums Die letzten Dinge sagt schon viel über seinen Glauben. Deutlich wird aber auch, aus welcher Glaubensüberzeugung Spohr lebte, wenn wir uns die Uraufführung anschauen.

Das Werk wurde am Karfreitag 1826 in der Lutheranischen Kirche in Kassel uraufgeführt. Auf Anraten seines Schwiegersohnes, der viele Jahre in Rom verbracht hatte, wurde die Kirche in gleicher Weise beleuchtet, wie es dort am Karfreitag üblich war. Ein sieben Meter langes Kreuz wurde mit Blattzinn abgedeckt und zusammen mit 600 Lampen aufgehängt, so daß alles Licht vom Kreuz ausging. Das reflektierte Licht genügte, um dem Publikum das Lesen des Textes zu ermöglichen. Insgesamt 200 Ausführende erfreuten 2000 Zuhörer. Zwei seiner Töchter warten unter den Solisten. Einmal war Spohr mit einer Aufführung vollkommen zufrieden.

Kurz nach der Uraufführung wurde das Oratorium beim Düsseldorfer Musikfest aufgeführt. Der Erfolg war so überwältigend, daß das Fest verlängert wurde, um das Oratorium ein zweites Mal aufzuführen.

Im Oratorium Drei Psalmen hat Spohr Psalmübersetzungen von Moses Mendelssohn einem bedeutenden Philosophen des 18. Jahrhunderts verwandt. Einer der Psalmen, den ich mit Ihnen in der Lutherübersetzung beten möchte, ist der wohl bekannteste Psalm überhaupt. Es ist der Psalm 23. Was wird Louis Spohr wohl gefühlt haben, als er über die Worte nachsann:

1 Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

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